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Sex versus Taubenfüttern

29.03.2013

Der alte Mensch, das sexuelle Wesen

Mein Großvater starb vor einem Monat mit 88 Jahren. Er ist einfach eingeschlafen. Niemand hatte damit gerechnet. Es ging alles so schnell und dann war er weg.

Meine Großmutter, 87, und er waren 60 Jahre lang ein Paar. Geheiratet hatten sie erst 3 Jahre nach der Geburt meines Vaters.

Er fehlt meiner Großmutter. Am Anfang war es der Schmerz, dass er nicht mehr da ist, um sich um sie zu kümmern, immer für sie da zu sein. Nach einer kurzen Weile wurde sie fast wütend auf ihn, weil er gegangen war.

Dies vorwiegend deshalb, da sie ihn immer in Verdacht hatte, sie betrogen zu haben. Sie hat ihn dafür fast täglich beschimpft und warf ihm sogar vor, andere Frauen mit begehrlichen Blicken angesehen zu haben. Bei diesen Eifersuchtsattacken ging es hauptsächlich um Vorfälle, die sich vor etwa 6 Jahren zugetragen haben sollen.

Also in einem Alter, in dem man alte Menschen nur mehr taubenfütternder Weise oder die Enkelkinder anstrahlend erleben möchte. Im schlechtesten Falle findet man sie dahinvegetierend in einer der verschiedenen Altenbetreuungseinrichtungen (bereits eine Bezeichnung, die es einem warm ums Herz werden lässt).


Nachbarschaftshilfe

Mein Großvater jedenfalls hütete immer wieder Haus und Hof eines Bauern, wenn dieser und dessen Frau verreist waren. Er blieb dort zwei Tage oder mehr über Nacht. Bei diesen Einsätzen soll er sich nicht nur um das liebe Vieh, sondern auch um die liebe Nachbarin gekümmert haben. Meine Großmutter will gesteckt bekommen haben, um welche Frau es sich konkret gehandelt haben soll.

Nach dem Tod meines Großvaters stellten sich viele Leute bei uns ein, um ihr Beileid persönlich auszudrücken. Unter anderem kam auch diese Frau. Meine Großmutter und sie unterhielten prächtig, bis diese Dame folgendes sagte: „Kannst du dich noch erinnern, wie ich dir immer gesagt habe, wenn wir uns getroffen haben, du sollst deinem Mann ein Busserl von mir geben?“

Das brachte das Fass zum Überlaufen. Noch am selben Tage rief meine Großmutter ihre Schwester an, um ihr von diesem Affront zu berichten. Meiner Schwester und mir erzählte sie es ebenfalls – mehrmals.

Mehr denn je wünschte sie sich, Ihr Mann wäre wieder hier, nur um ihm ihren Ärger und ihre Wut ins Gesicht brüllen zu können. Was für eine Frechheit! Nicht einmal jetzt lässt die Geliebte locker! Was will sie ihr noch antun?

Meine Großmutter ist getrieben von diesen Gedanken an Sex. Wenn ich sie nach ihren sexuellen Erfahrungen außerhalb der Ehe frage, weicht sie aus. Aus der Art ihres Ausweichens ergibt sich, dass es einen oder auch mehrere andere Männer gab. Jedenfalls hätte sie gern mehr bzw. befriedigendere sexuelle Erfahrungen gemacht. Die Konvention aber legte ihr auf, Sex als etwas Schmutziges zu sehen. Die wohl unbefriedigenden, eigenen sexuellen Erfahrungen taten ihr Übriges und so wettert sie gegen jeden, den sie in Verdacht hat, ein erfülltes, sexuelles Leben zu führen.


Nichts Jugendfreies im Kopfkino

Ihre Schwester hatte vor gut 60 Jahren im gleichen Raum, in dem auch meine Großmutter schlief, Sex mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann war. Das hat ihr meine Großmutter bis heute nicht verziehen. Aus offiziell anderen Gründen spricht sie mit dieser Schwester seit ca. 30 Jahren kein Wort mehr.

Wer also die Hoffnung hegt, im Alter ruhiger und gelassener zu werden, dem sei gesagt, dass sich rein platonische Beziehungen zum anderen Geschlecht selbst mit weit über 80 Jahren noch nicht ausgehen. Auch wenn es der Körper vielleicht nicht mehr zulässt, sich aktiv am Geschehen zu beteiligen, so hat man immer noch das Kopfkino bei sich und da geht es eindeutig nicht jugendfrei zu.


KWH



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