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Idyllenfiber: wer will in der eigenen Familie angelogen werden?
05.06.2012
Man lernt nie aus. Feedback und Kritik sollten die Mittel zum Lernen sein. Dabei werden diese oft als persönlicher Angriff und Beleidigung aufgefasst. Das führt dazu, dass die Information ins Leere verschwindet und die Zeit von mehreren Beteiligten einfach umsonst verschwendet wird.

Männer gehen fremd, Frauen gehen fremd. In den Umkleidekabinen, auf den öffentlichen WCs wird getuschelt. Jeder zieht in der Früh eine Maske mit einem lächelnden Gesicht an und zieht diese erst aus, wenn er sich ins Bett zum Schlafen hinlegt. Es wird nett getan und höflich dahingeredet. Bequem und praktisch. Man kann unaufhörlich über das Wetter reden und der Gesprächspartner wird fleißig sein „ja, ja“ bis zu tausendmal wiederholen. Unser Verhalten, die Beziehung zu den anderen, wird auf Höflichkeit und Nettsein reduziert. „Aber sie ist doch so nett!“, hört man so oft. Und das sollte gut genug sein? Wie viel hat einer davon, dass er nett ist? Wenn alles andere völlig in die Hose geht? Wie viel Lügen halten wir noch weiter aus?

Man kommt zur Arbeit in einer Strumpfhose mit einem Loch und einer verfärbten Bluse. Der Mitarbeiter lächelt höflich, streckt jedoch nicht die Hand aus, sondern wirkt ein wenig zurückhaltend. „Probleme in der Familie?!“, denken Sie sich. „Du Trottel“, denkt sich ihr Mitarbeiter.

Alles in einem ergibt sich eine einfache Formel: Ehrlichkeit ist heute nicht in. Statt einen auf seine Fehler aufmerksam zu machen oder ein notwendiges Feedback zu geben, wird gelästert und hinten rum getan.  Wer sich nicht anpassen kann, wird höflich ausgeschieden.

Wie unfair! Warum sagt er es mir einfach nicht, dass ich einen weißen Fleck auf meiner schwarzen Hose habe? Warum bekomme ich nicht das notwendige Feedback darüber, dass ich ein unpassendes Strandkleid für einen Ausflug in die Stadt angezogen habe? Die Antwort ist simpel: Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, geht Prophet zum Berg. Und noch was: Jeder ist seines Glückes Schmied. Daher, will man im Leben weiterkommen und die notwendigen Erfahrungen sammeln, sollte man sich diese selbst holen. Dazu gehört viel  beobachten, ausprobieren, auf Reaktionen schauen und für sich die notwendigen Schlüsse ziehen. Wenn man dazu nicht fähig ist, ist man einfach nicht willig genug und somit nicht fähig im Leben weiterzukommen.

Interessant ist, dass Männer offenbar öfter Frauen Feedback geben als Frauen anderen Frauen, da Männer durch solche Unterstützung womöglich bessere Chancen haben, von einer Frau ausgewählt zu werden. Diese Strategie mag korrekt sein, jedoch kommt leider auch hier das Feedback nicht immer an das richtige Ohr. Oft spricht bei Frauen statt des gesunden Menschenverstandes ihre viel zu emotionale und oft auf Befindlichkeiten und Beleidigungen gerichtete innere Welt. Das Ergebnis sind Streit und Verspannungen. Um diese zu vermeiden, wird gelogen, pardon… höflich vorgegangen.

Irgendwie sucht man in der eigenen Familie dann am meisten nach Verständnis und Zustimmung in jedem Bereich. Wenn ich schon woanders kritisiert und ausgelacht werde, dann will ich doch zumindest in der Familie geschätzt und geliebt werden. Dieses Geliebt- und-geschätzt-werden-Gefühl ist der Killer von Ehrlichkeit, Direktsein und Offenheit. Zumindest in der eigenen Familie soll es keinen Streit geben. Man sollte ja zumindest hier nicht kritisiert werden. Doch wie holprig ist eine Beziehung aufgebaut auf Lügen? Wer will schon heruntergestuft  werden, weil er sich das notwendige Feedback nicht holt und sich nicht mal mit dem Partner auf dem gleichen Niveau unterhalten kann? Die Welt mag unfair sein, man kann sie jedoch nicht ändern. Aber jeder kann einen kleinen Beitrag dazu leisten, indem er sich selbst so zu verändern versucht, dass er ohne Verlangen Ehrlichkeit und Direktheit ans Ohr gesagt bekommt.

Varvara Shcherbak
 

die-frau.ch