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Wer ist der Täter? Der Missbrauchstäter oder -opfer mit Selbstjustiz?
31.12.2019
Agatha Christies Art, die Leser zu verführen, in das Geschehen zu verwickeln und zum Schluss zu verblüffen, ist bekannt. Jede ihrer Erzählungen/Theaterstücke schafft es aufs Neue, den Leser/den Zuschauer in ihren Bann zu ziehen und dann vollkommen zu verwirren. Genau in dem Moment, in dem man glaubt, die Lösung zu kennen und nur noch auf die Enthüllung wartet, erweist sich diese als etwas raffiniert Unerwartetes. Egal, wie sehr man sich anstrengt, wird man ihr niemals voraus sein, außer natürlich man kennt die Handlung bereits. Wohl ist genau diese Spannung und der Kampf, doch derjenige zu sein, der das Rätsel lösen kann, das Entscheidende, was jedermann süchtig nach dem Geschehen macht.
 
Im seit Monaten ausverkauften Vienna´s English Theater war die Spannung bei der Vorführung von der „Mausefalle“ hoch, und jeder rätselte nun darum, welcher Gast, oder ist es einer der Gastgeber, der Mörder ist und wer die nächsten zwei Mäuse sein werden. Noch mehr Rätsel und Stoff für Diskussionen löste die Frage aus, wer nun die zwei überlebenden Kinder der Horrorfarm sind. Voller Angst um die Hotelbewohner und die Gastgeber lauschte man jedem Wort, jeder Bewegung, jeder neuen Auflösung. 
 

 
Es gibt zahlreiche Interpretationen der „Mausefalle“, und jede wird zum großen Erfolg und lässt die Besucherzahlen in die Höhe steigen. Es gibt aber ein einziges Theater, das seit 1952 Agatha Christie und ihrem Werk seine Treue hält und das Stück täglich aufführt: das Londoner St. Martin´s Theater. Hier gilt die „Mausefalle“ als das am längsten aufgeführte Theaterstück auf der Welt: im Jahr 2012 fand die 25.000te Aufführung statt. Im Gegensatz zu den anderen Theaterstücken und Büchern von Agatha Christie wurde die „Mausefalle“ nie verfilmt. Obwohl die Filmrechte bereits gekauft sind, wurde eine Verfilmung an eine Bedingung geknüpft: die Verfilmung darf erst mit Ende der Aufführungen in London stattfinden. Wohl ein weiterer Geniestreich von Agatha Christie. 
 
Auch die Aufführung der „Mausefalle“ im Vienna´s English Theatre richtete sich nach dem Vorbild der seit Jahren erfolgreich geführten Regie. Sowohl das Bühnenbild als auch die Kostüme ähneln größtenteils denen aus dem Londoner St. Martin´s Theatre: eine breite Couch mit Sessel in der Mitte der Bühne und ein Schaukelstuhl an ihrer linken, hohe Fenster mit Vitrageglas, Wendeltreppe hinten rechts, Kostüme im 50er-Jahre-Stil. Dies machte die Aufführung im Vienna´s English Theatre authentisch und rettet von dem ständigen Drang zu Modernisierung und künstlerischer Kreativität. Am Beispiel der Aufführungen im St. Martin´s Theatre sieht man, dass das Altbewährte den größten Wert hat.   
 
Schiebt man jedoch die Aufregung und Spannung über die Handlung beiseite, kommt man zur traurigen Schlussfolgerung, dass jeder Missbrauch Auswirkungen auf die Person, die diesen erlebt hat, hat. Damit will man keinesfalls den Täter rechtfertigen. Jedoch stellt sich zwangsläufig die Frage, ob denn diejenigen selbst, die Missbrauch betreiben, ebenso gleich Täter sind? 
 

 
Die Geschwister Corrigan, welche während des Krieges einer gewissen Frau Maureen Stanning anvertraut und von ihr auf der nahen Longridge Farm großgezogen wurden, tragen von dem Missbrauch durch diese seelische Schmerzen davon. Eines der Geschwister wurde fahrlässig sterben gelassen. Nachdem Maureen Stanning, welche sich nun Maureen Lyon nennt, aus der Haft für ihre Tat entlassen wurde, wird sie von einem der überlebenden Geschwister (Matthew Biddulph) umgebracht. Dieser begibt sich auf die Jagd nach weiteren  Schuldigen, bei denen er ebenfalls Selbstjustiz üben will. Auch Mrs. Boyle (Karren Winchester), welche damals die drei Kinder als Mitarbeiterin des Kriegsdienstes der Familie Stanning zuwies, sowie die Lehrerin (Grace Stone), welche die Hilferufe der verstorbenen Geschwister ignoriert hat, sind für den Mörder die Täterinnen und Schuldigen an den Leiden der drei Geschwister und sollten nun mittels Mord zur Rechenschaft gezogen werden.
 
Mrs. Boyle sieht keinesfalls ihren Fehler an der Zuweisung der drei Kinder an die Familie Stanning, sie hätte schließlich nur ihren Job gemacht. Einzig und alleine wer sich Vorwürfe macht ist die Lehrerin, welche aufgrund ihrer Erkrankung der Hilferuf zu spät erreicht hat. Die grausamen Zeiten des Missbrauchs und der Not der Geschwister haben auch sie seelisch beeinträchtigt und ihre Ruhe geraubt. 
 

 
Was den Geschwistern angetan wurde, kann mit keiner Entschuldigung wiedergutgemacht werden. Es ist ein Schandfleck auf der Seele und im Leben jedes einzelnen, der dabei aktiv oder passiv mitgewirkt hat. Jedoch ist der einzige Weg aus der Situation drüberzusteigen, sich weder zum Opfer noch zum Täter zu machen, und auch wenn dies kein Spaziergang ist weiterzuleben. Die Schwester des Mörders, Miss Casewell (Olivia Chappell), eines der drei Geschwister, ist das perfekte Beispiel dafür. Auch wenn die Kindheit an ihr unheilbare Spuren hinterlassen hat, hat sie es verarbeitet und macht aus ihrem Leben das Beste. 

 
vs

Fotos: Vienna`s English Theatre

die-frau.ch