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Pflege tötet die Liebe
05.01.2017
Ein 48-Jähriger steht in Verdacht, seine beiden gehörlosen und zuletzt bettlägrigen Eltern, 75 und 85 Jahre alt, im Schlaf erschlagen zu haben. Er selbst meldete die Bluttat und ließ sich widerstandslos festnehmen. Als Motiv gab er an, mit der Pflege der Eltern überfordert gewesen zu sein. Seit Jahren habe er fast ausschließlich die Betreuung der Eltern übernommen und gemeinsam mit ihnen in deren Haus gelebt.

Das ist nur der aktuellste derartige Fall und wird es mit Sicherheit nicht der letzte sein.

Wie kommt es, dass Menschen, vorwiegend Männer, die sich aufopfernd um ihre alten, pflegebedürftigen  Eltern kümmern, als ruhig, besonnen und freundlich  beschrieben werden, zu solchen Gräueltaten fähig werden? Und überhaupt, was sind das für Menschen?! Ganz einfach: Es sind Menschen wie du und ich. Menschen, die den Rand der Verzweiflung überschritten haben. Menschen, die erkennen müssen, dass die Liebe zu den Eltern doch nicht Allem Stand hält.

Natürlich ist es eine Variante, die Alten ins Heim zu verfrachten. Dafür sind die Seniorenheime schließlich da. Abgesehen von einem eventuellen Kostenfaktor entscheiden sich doch einige dazu, ihren Eltern ein Leben und Sterben im eigenen zu Hause zu ermöglichen. Auch für diesen Fall gibt es die Möglichkeit einer 24-Stunden-Betreuung. Vorzugsweise werden diese Pfleger aus der Slowakei, aus Rumänien etc geholt, denn Arbeitskräfte aus dem eigenen Land sind bei der Stundenintensität faktisch nicht leistbar. Bereits eine ausländische Pflegekraft bedeutet enorme finanzielle Belastungen, die bestenfalls durch Rente, Beihilfen und Zuschüsse überhaupt bewerkstelligbar sind.
Und dann gibt es eben die Variante, dass die auf Hilfe angewiesenen Senioren innerfamiliär gepflegt werden. Aus welchen Gründen auch immer. Dazu erklärt sich sicher niemand bereit, der nicht einen Funken Liebe für seine Eltern empfindet – nicht damit rechnend, dass das durchaus ins Gegenteil umschlagen kann.

Der Tagesablauf des „Pflegers“ orientiert sich fortan gnadenlos an den Bedürfnissen des „Pfleglings“.  Das beginnt beim Aufstehen und beim WC-Gang bzw. beim Windelwechseln. Beim Waschen, Eincremen und Anziehen. Man gewöhnt sich erschreckend schnell daran, permanent an den intimsten Stellen der einstigen Autoritätsperson zu Gange zu sein. Medikamente müssen gerichtet und verabreicht werden. Meist sind es so viele, dass man den Eindruck hat, eine Packung Smarties sei ausgeleert worden.

Natürlich ist nicht nur der Pfleger ein Gefangener mit unsichtbaren Fesseln. Die alten Menschen sind sich meist ihrer Situation bewusst und das führt zu Depression und Aggression.
Ist die Demenz fortgeschritten, können sie das eigene körperliche Unvermögen nicht mehr einordnen. Sie können doch alles alleine und selbstständig, aber dennoch ist da immer jemand, der ihnen sagt, was sie tun und lassen sollen.
Es ist gewiss nicht angenehm, wenn man vom Sohn den Hintern abgewischt und die Windeln gewechselt bekommt. Es ist nicht schön, wenn man im Haus bleiben muss, wo man doch so gerne auf Reisen gehen möchte. Es ist überhaupt nicht toll, wenn man offene Stellen vom vielen Liegen hat, die eitern und dazu führen, dass sich die Haut von den Knochen löst. Und dann kommt auch noch regelmäßig der Sohn, um schmerzhaft die Verbände zu wechseln.

Rasch keimt das bedrückende Gefühl der Abhängigkeit auf – wechselseitig. Sicher gibt es jene netten alten Damen und Herren, die Dankbar sind für jede Aufmerksamkeit und die Tatsache, dass sich jemand aus der Familie um sie kümmert. Es gibt aber auch jene, die an genau dieser Situation zerbrechen. Wer sein Schicksal immer fest in eigener Hand hatte, der will nicht von jemand anderen abhängig sein, auch wenn er diesen jemand noch so sehr liebt.
Es mischen sich Wut, Freude, Zuversicht, Dankbarkeit, Abscheu, Ekel, Sehnsucht, Hass, Liebe, Verzagen und Hoffnung zu einer gallertartigen Masse, in welcher sich das restliche Leben zu verfangen droht.
Dem pflegenden Familienmitglied geht es nicht viel anders. Abgesehen davon, dass wohl jeder komisch wird, wenn er einige Nächte in Folge nie länger als drei Stunden am Stück schläft.

Auf gelegentliche verbale Ausritte, beider Seiten, folgen Schuldgefühle. Bis zur nächsten Entgleisung. Die Abstände dazwischen werden immer kürzer.
Wird die Frustration ob der eigenen Hilflosigkeit zu groß, folgt das letzte Aufbäumen, um sich Luft zu machen. Um auch die Umgebung an diesem Frust teilhaben zu lassen, werden Medikamente verweigert, was wiederum zu Streit, Wut, neuem Frust, Schuldgefühlen und Verzweiflung führt.
Es ist diese Art der Pflege wohl nicht von der Natur vorgesehen. Eine verwandschaftliche Distanz, wie sie bei professionellem Pflegepersonal gegeben ist, erleichtert und entschärft die Situation auf beiden Seiten enorm.  Der Zugang  zu und die Leistbarkeit dieser Hilfe sollte dringend besser geregelt werden, um Verzweiflungstaten wie eingangs beschrieben zu verhindern.

Für jene, die ihre Familienangehörigen zu Hause pflegen, gibt es kaum mentale Unterstützung. Niemand gibt nach außen zu, dass er mit der Pflege überfordert ist. Wie soll man mit jemand über diese extremen Gefühle in Bezug auf die eigenen Eltern reden? So etwas hat es in der Familie nicht zu geben und wäre verheerend für das Bild nach außen. In dem Punkt ist das sozialromantische Bild von der alten Frau, die zufrieden ihrem Ende entgegenlächelt, und des  Sohnes , der ihr im Vorbeigehen über das längst ergraute Haar streicht, stärker als die nicht so nette Realität.

Es mangelt an Ansprechpartnern und an faktischer Hilfe, um die häusliche Pflege alter Menschen besser bewerkstelligen zu können. Ein Tabubruch ist als erstes dringend notwendig. Ja, diese Pflege im Familienverband löst allerhand, zum Teil auch schreckliche, Gefühle aus. Dessen muss man sich bewusst sein. Verdrängen funktioniert nicht. Das ist Teil dieser neuen Art des Zusammenlebens und sollte als solche akzeptiert werden.

Die Pflege der Eltern in der Familie hat natürlich nicht nur diese negativen Seiten. Bewusst wurde hier der Fokus aber darauf gelegt, weil endlich darüber gesprochen werden muss. Diese Stigmatisierung der Schattenseiten führt nur zu Elend.
Die positiven Aspekte liegen ohnehin auf der Hand. Wer von seinen Kindern zu Hause behalten wird, trotz widrigster Umstände, der weiß auch, dass er vieles in seinem Leben richtig gemacht hat. Der weiß, dass er eine Familie hat, auf die er sich verlassen kann. Die pflegenden Kinder haben berechtigte Hoffnung, dass auch ihre Kinder es ihnen gleichtun werden und ihnen ein Lebensende im eigenen Heim ermöglichen werden – mit allen Höhen und Tiefen.


KWH

Titelbild: Senescence; Portrait of Elisabetha Drum. Urheber: Michael Stroeck, Wikicommons. (zugeschnitten)

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